Mai 15

Der Narr

 

Du fragst mich, wie ich zum Narren wurde?

 

Das geschah so:
Eines Tages, lange bevor die vielen Götter geboren waren, erwachte ich aus einem tiefen Schlaf und gewahrte, dass meine Masken gestohlen worden
waren – die sieben Masken, welche ich in sieben Leben verfertigt und getragen hatte.
Unmaskiert rannte ich durch die vollen Strassen und schrie:
«Diebe, Diebe, die verdammten Diebe!»
Männer und Frauen lachten.
Einige liefen aus Angst vor mir in ihre Häuser. Als ich zum Marktplatz kam, rief ein Junge von einem Hausdach:
«Er ist ein Narr!»
Ich blickte empor, um ihn zu sehen:
Da küsste die Sonne erstmals mein blosses Antlitz, und meine Seele entflammte in Liebe zu ihr und ich wünschte mir keine Masken mehr.
Wie in Trance rief ich:
«Segen, Segen über die Diebe, die meine Masken gestohlen»
So wurde ich zum Narren.
Und in meiner Narrheit fand ich Freiheit und Sicherheit:
Die Freiheit der Einsamkeit und die Sicherheit vor dem Verstandenwerden.
Denn diejenigen, welche uns verstehen, versklaven etwas in uns.»

 

Khalil Gibran

   
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