Mai 17

Die Bohnen in der Hand

 

Auf ihrem Sterbebett nimmt eine junge Frau ihrem Mann das Gelöbnis ab, sich nach ihrem Tode nie mit einer anderen einzulassen.
«Wenn du dein Versprechen brichst, werde ich als Geist zurückkommen und dir keine Ruhe geben.»
Der Mann hält sich zunächst daran, aber einige Monate nach ihrem Tode lernt er eine andere Frau kennen und verliebt sich in sie.
Bald darauf beginnt ein Geist ihm jede Nacht zu erscheinen und ihn des Bruchs seines Gelöbnisses zu beschuldigen. Dass es sich um einen Geist handelt, steht für den Mann ausser Frage, da der Geist nicht nur über alles unterrichtet ist, was zwischen dem Mann und der neuen Frau täglich vorgeht, sondern auch über die geheimsten Gedanken, Hoffnungen und Gefühle des Mannes genau Bescheid weiss. Da die Lage schliesslich für ihn unerträglich wird, geht der Mann zu einem Zen-Meister und bittet ihn um Rat.
«Eure erste Frau wurde zum Geist und weiss alles, was Ihr tut», erklärte der Meister.
«Was immer Ihr tut oder sagt, was immer Ihr Eurer Geliebten gebt, sie weiss es. Sie muss ein sehr weiser Geist sein. Fürwahr, Ihr solltet solch einen Geist bewundern. Wenn sie das nächste Mal erscheint, macht einen Handel mit ihr aus. Sagt ihr, dass sie so viel weiss, dass Ihr nichts vor ihr verbergen könnt, und dass Ihr Eure Verlobung brechen und ledig bleiben werdet, wenn sie Euch eine Frage beantworten kann.»
«Was ist das für eine Frage, die ich ihr stellen muss?» fragte der Mann.
Der Meister erwiderte: «Nehmt eine gute Handvoll Bohnen und fragt sie nach der genauen Zahl der Bohnen in Eurer Hand. Wenn sie es Euch nicht sagen kann, so werdet Ihr wissen, dass sie nur eine Ausgeburt Eurer Phantasie ist, und sie wird Euch nicht länger stören.»
Als der Geist der Frau in der nächsten Nacht erschien, schmeichelte der Mann ihr und sagte, dass sie alles wisse.
«In der Tat», antwortete der Geist, »und ich weiss, dass du heute bei jenem Zen-Meister warst.»
«Und da du so viel weisst», forderte der Mann, «sag mir, wie viele Bohnen ich in meiner Hand halte.»
Da war kein Geist mehr, um diese Frage zu beantworten.

 

Paul Watzlawick, «Anleitung zum Unglücklichsein»

   
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