September 19

Der Uhu und der Wettbewerb

  Ein Uhu, der eine Weile in Gefangenschaft bei den Menschen gelebt hatte, kehrte in den Wald zurück und erklärte den Tieren die seltsamen Bräuche der Städter.
Er erzählte zum Beispiel, dass man in den Städten Wettbewerbe in den verschiedenen Künsten ausrichtete, um die Besten jeder Sparte zu ermitteln: in der Malerei, im Zeichnen, Bildhauern oder beim Gesang …
Die Idee, es den Menschen gleichzutun, verbreitete sich schnell unter den Tieren, und innerhalb kürzester Zeit war ein Gesangswettbewerb organisiert, zu dem sich, vom Stieglitz bis zum Nashorn, fast alle Anwesenden rasch angemeldet hatten.
Angeleitet vom Uhu, der es von der Stadt her so kannte, wurde bestimmt, dass der Wettbewerb in allgemeiner und geheimer Abstimmung aller Teilnehmer entschieden werden sollte, die damit also ihre eigene Jury bildeten.
Und so geschah es. Jeder Bewohner des Waldes, auch der Mensch, stieg aufs Podium und sang unter mehr oder weniger grossem Beifall aus dem Publikum ein Lied. Ausschliessend notierte man seine Wertung auf einem Zettel der gefaltet und in einer grossen Urne eingesammelt wurde, über die der Uhu wachte.
Als der Moment der Auszählung gekommen war, betrat der Uhu die improvisierte Bühne und öffnete, von zwei Affen flankiert, die Urne, um in einem transparenten Wahlvorgang, als Höhepunkt der allgemeinen und geheimen Abstimmung und als Beispiel für die demokratische Gesinnung, die Stimmen auszuzählen, genau wie er es bei den Politikern in der Stadt beobachtet hatte.
Einer der Greise zog die erste Stimme hervor, und der Uhu verkündete lauthals vor dem bewegten Publikum: «Die erste Stimme, liebe Brüder uns Schwestern, geht an unseren Freund, dem Esel!»
Ein Schweigen trat ein, dann folgte zaghafter Beifall.
«Die zweite Stimme fällt auf … den Esel!»
Verwirrung machte sich breit.
«Die dritte Stimme: der Esel!»
Die Teilnehmer tauschten untereinander Blicke aus, zunächst überrascht, dann vorwurfsvoll und schliesslich, nachdem Stimme um Stimme auf den Esel gefallen war, zunehmend beschämt und schuldbewusst ob der eigenen Wahl.
Jeder wusste, dass es keinen schlechteren Gesang gab als das ohrenbetäubende Eselsgeschrei. Dennoch hatte ihn Stimme um Stimme zum besten Sänger erkoren.
Und so geschah es, dass nach der Stimmenauszählung der unabhängigen Jury in freier Wahl entschied, dass das schaurig schrille Eselsgeschrei den ersten Preis erhielt.
Der Esel wurde zur «Besten Stimme im Wald und auf weiter Flur» gekürt.
Dann erklärte der Uhu, was passiert war: Jeder der Teilnehmer hatte sich selbst für den verdienten Sieger des Wettbewerbs gehalten und seine Stimme am wenigsten qualifizierten Teilnehmer gegeben, demjenigen also, von dem nicht die geringste Gefahr ausging.
Die Wahl war fast einstimmig entschieden worden. Nur zwei Stimmen waren nicht an den Esel gefallen: seine eigene, denn da er wusste, dass es für ihn nicht zu verlieren gab, hatte er aufrichtig für die Lerche gestimmt, und die des Menschen, der, wie könnte es anders ein, für sich selbst gestimmt hatte.
 

Jorge Bucay, Komm, ich erzähl dir eine Geschichte

   
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